SULHA Teil 2 – Vergebung

SULHA basiert im Wesentlichen auf Vergebung. Kann die angegriffene Seite nicht vergeben, wird auch eine SULHA keinen Frieden bringen können.

Das Komitee des jaha spricht, nach dem es sich gebildet hat, die Familie des Opfers an:“Wir wurden von Seiten des Angreifers und seiner Familie gebeten, euch einen Besuch abzustatten verbunden mit der Ehre, euch ihr Bedauern und ihre tiefe Trauer auszudrücken, für das, was passiert ist. Gleichzeitig bitten wir zu eurer Ehre uns den Fall in die Hände zu geben, um zu sehen, wie wir helfen können den Frieden zwischen den Familien wieder herzustellen. Wir bitten um eure Zustimmung, die Rolle des Mediators einnehmen zu dürfen.“

In der Regel führt der erste Besuch der jaha  noch nicht zur gewünschten Verständigung. Trauer und Wut auf Seiten der Opferfamilie sind anfangs noch zu stark, so dass es meist zweier oder dreier oder sogar mehrerer Besuche bedarf, um ihr Einwilligung zu erreichen.

Es gibt einen wunderschönen Satz – gleichsam einem Code – mit dem eine angegriffene Familie anzeigt, dass mit dem Handel des SULHA begonnen werden kann. Wird dieser Satz nicht gesprochen, kann die Mission noch nicht beginnen. Dem Ritus folgend kann das Oberhaupt der angegriffenen Familie sagen:“Ich akzeptiere, dass unser Fall in eure Hände gelegt wird, und dass es nun an euch ist eine Regelung zu finden (sarha we mirawha). Ich werde jede Regelung akzeptieren, die ihr vortragen werdet.“

Die Worte müssen klar und deutlich geäußert werden, nicht murmelnd oder nur zu sich selbst gesprochen. Sie müssen offen vorgebracht werden, am besten vor allen Familienmitgliedern und vielen Zeugen, so dass es später keine Komplikationen oder Missverständnisse geben kann. Die ganze Last der Verantwortung wird nun der jaha auferlegt. Sobald diese ihr endgültiges Urteil abgegeben hat, hat die angegriffene Familie keine andere Wahl mehr, als die Entscheidung zu akzeptieren.

Sorgfalt in der Wahl der Worte ist somit geboten, denn ein vergessenes Wort, ein einfacher Fehler, ein nicht durchgeführter Schritt im Prozess des SULHA und die ganze SULHA bricht zusammen.

Es ist unabdingbar, Schritt für Schritt eine solide Basis zu schaffen, ohne Missverständnisse. Es wird oft versucht SULHA anzuwenden, aber oft sind das Wissen und die eigene Fähigkeit nicht ausreichend, um dauerhaften Frieden zu stiften. Manchmal wird ein Schritt ausgelassen oder vergessen oder man verständigt sich auf eine Art Abkürzung. Aber all dies führt in den meisten Fällen dazu, dass die SULHA von einer der Familien oder beiden letztendlich nicht anerkannt wird.

Die anfängliche Zustimmung der angegriffenen Familie garantiert für gewöhnlich, dass diese Familie auch keine Rache ausüben wird. Ein arabische Redewendung sagt:“Über den Frieden zu sprechen, ist bereits Frieden.“ Diesen Schritt im SULHA nennt man hodna (Waffenruhe).

Mit dieser Einigung beginnt eine begrenzte und mit Bedingungen versehene Periode des Friedens zwischen den beiden Familien. Einer der Bedingungen lautet, dass unter allen Umständen kein Mitglied der Familie des Angreifers einem männlichen Mitglieder der Opferfamilie begegnen darf.  Trifft man sich zum Beispiel zufällig im selben Bus, muss das Mitglied der Familie des Angreifers den Bus verlassen. Kommt es zu einem Treffen an einem öffentlichen Ort, müssen sie diesen ebenfalls sofort verlassen.

Dies gilt als Akt der Demut, der Höflichkeit und des Respekt gegenüber den verletzten Gefühlen der anderen Familie. Es entsteht nicht aus einem Gefühl der Angst, sondern um Reue und den Willen zum Friedenschluss zu demonstrieren.

Die hodna (Waffenruhe) gilt nur für eine begrenzte Zeit, meist drei bis sechs Monaten oder in manchen Fällen auch länger. In dieser Periode versprechen die Familien keine Rache zu üben und die Mitglieder der jaha arbeiten mit beiden Seiten an einer vernünftigen Regelung. Der angegriffenen Seite wird ein Vorschlag des Angreifers zur Regelung angeboten. Erst wenn es zu einer von beiden Seiten akzeptierten Regelung gekommen ist, können die nächsten Schritte der SULHA durchgeführt werden.

Während des hodna (Waffenstillstands) wird das atwa bezahlt. Das atwa ist gleich einer Bürgschaft und die Rückversicherung des hodna. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen angemessenen Geldbetrag. Es gibt zwei Arten von atwa. Eine Arte ist der sharaf, ein Ehren-atwa, wenn eine Seite sagt, „Ich benötige kein Geld, um diesen Waffenstillstand zu gewähren. Ich gebe dir mein Ehrenwort.“ Dies gilt als besonders noble Geste. Die zweite Arte ist ein Geld-atwa. Wenn Geld gezahlt wird, kann es ein atwa lafia sei, dies bedeutet, es ist ein Teil der diya Einigung, oder es ist ein atwa hafia, und ist dann unabhängig vom Betrag der diya.

Atwa money ist eine Garantie, die gewährleisten soll, dass während des Waffenstillstands nichts zwischen den Familien passieren wird. Viele Familien akzeptieren dieses Geld. Es ist ihr Recht. In diesem Fall hat die Familie das Geld im Beisein aller anzunehmen. Wenn sie das Geld genommen hat, wird es schwierig für sie und würde einer Schande gleichkommen, vom Prozess des SULHA wieder zurückzutreten. In vielen Fällen zwingen die Umstände eine Opferfamilie das Geld anzunehmen, und sie haben das Recht dieses Geld zurückzugeben, wenn sie dies möchten.

Die hodna kann für einen Monat, für sechs Monate oder ein Jahr sein. Sie kann verlängert und laufend erneuert werden. Wenn eine hodna nach sechs Monaten ausläuft, dann muss die angegriffene Familie erneut gefragt werden, ob sie einer Verlängerung zustimmt. Die Länge dieses Prozesses ist nicht festgelegt und hängt von den jeweiligen Umständen ab.

Oftmals kann die jaha die hodna für nicht weniger als einen Monat festlegen, ohne die Gefühle der betroffenen Familie zu verletzen. Es bedarf zumindest einer 40-tägigen Trauer. Es ist nicht möglich, die Gespräch zu eröffnen, solange die Emotionen sich nicht etwas abgekühlt haben. Andererseits ist für die jaha nicht möglich, die Familie des Opfers zu verlassen, ohne die hodna gleich am ersten Tag vereinbart und festgelegt zu haben. Dies dient in erster Linie dazu, eine Periode der Ruhe und Besinnung zu vereinbaren, bis es zur abschließenden Einigung kommt.

Manchmal wird die hodna noch auf dem Friedhof während der Beerdigung mit den Worten vereinbart:“Wir sollten diesen Platz nicht verlassen, ohne dass wir euer Ehrenwort haben, dass nichts weiteres zwischen den Familien geschieht…“

Vor allem angesehene Familien werden dem zustimmen, aber einige auch nicht und diese machen den Fall besonders schwierig. Manchmal gelingt auch eine Art vorläufige hodna und dann kann um die atwa verhandelt werden und andere Details folgen erst später. Wenn der Älteste der Familie sein Ehrenwort für die Familie gibt, von aller Revanche Abstand nimmt, ist die größte Gefahr vorüber.

Die gefährlichsten Tage sind ohnehin die Tage nach der Beerdigung, da dies die eigentlichen Tage der Rache darstellen. Nach alter arabischer Tradition hat die angegriffene Familie für 24 Stunden nach der Beerdigung das Recht, Rache zu nehmen. Dies ist die Zeit der größten Wut, beschrieben als Zeit des kochenden Blutes in den Venen der Opferfamilie, (fawrat el-dam).

Früher, in den alten Zeiten, wenn der Mörder und seine Familie im selben Dorf wohnten wie das Opfer, hatte diese das Dorf sofort zu verlassen und ins Exil oder jala zu gehen. Dieses SULHA Gesetz gibt es noch immer, obwohl es aufgrund gesteigerter Mobilität schwieriger wurde, es zur Anwendung zu bringen.

aus: Elias Jabbour „SULHA Palestinian Traditional Peacemaking Process“ (aus dem Englischen von mir „bestmöglich“ übersetzt)

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